+49-431-72004160 moin@otus2.com
Seite wählen

Über viele Jahre wurde die Qualität einer Übersetzung nach rein sprachlichen Aspekten bewertet. Die großen Unternehmen leisteten sich interne Sprachendienste, die sich als genau das verstanden: sie waren Hüter der Sprache. Gelieferte Übersetzungen wurden mit dem Duden seziert. Es wurden dazu ausgeklügelte Bewertungsmethoden entwickelt, z. B. LQA mit Schwerekategorien, in die alle Fehler eingeordnet und damit gewichtet wurden. Wer wie ich einmal eine solche Bewertung unter Laborbedingungen mit anderen durchgeführt hat, weiß, dass viele Einordnungen subjektiv sind, was häufig zu einer höheren Betonung des Sprachstils als der fachlichen Richtigkeit und immer wieder zu Diskussionen führte.

Qualitätsdiskussion

Beispiel 1: Styleguides

Die Sprachendienste gaben den Dienstleistern gern sogenannte Styleguides an die Hand, also Sammlungen von Erläuterungen, Anweisungen und Formulierungsbeispielen. Bei unserem damals größten Kunden wuchs der auf mehr als 120 Seiten an. Mit ihm als Grundlage wurde die Qualität aller Lieferanten bei jedem Projekt bewertet und wer unter einen bestimmten Durchschnitt fiel, musste um weitere Aufträge bangen. Dieses Problem hatten wir nicht, da wir deutlich darüber lagen, aber zahlreiche uns angestrichene »Fehler« waren unserer Ansicht nach unberechtigt. Daher baten wir um ein Gespräch mit den Qualitätsverantwortlichen. Wir besprachen eine Reihe von Fehlern, die meine Kollegin als unberechtigt gemeldet hatte. Nach etwa 5 Minuten lehnte ich mich zurück und hörte nur noch amüsiert zu – was in Meetings nicht meine Art ist. Der Grund: die beiden Qualitätsverantwortlichen diskutierten heftig untereinander. Schließlich mussten sie zugeben, dass ihr Styleguide an vielen Stellen mehrdeutig oder gar widersprüchlich war und letztendlich keiner (!) der Fehler Bestand hatte.

 Sprache ist nicht logisch, daher ist der Versuch, sie in ein Korsett zu zwängen, zum Scheitern verurteilt.

Beispiel 2: Fachsprache

Für einen Kunden durften wir die Dokumentation und Hilfe für eine neue Softwareanwendung übersetzen (zu der Zeit, als es noch Handbücher gab). Dafür hatte der amerikanische Konzern sich extra einen studierten deutschen Übersetzer in die Zentrale geholt, der die Terminologie bearbeiten sollte. Wir bekamen dann die Vorgaben und unsere Übersetzung wurde als sehr gut eingestuft.

Als Version 2 herauskommen sollte, durften wir erneut übersetzen, mussten aber verwundert feststellen, dass wir nichts aus Version 1 wiederverwenden konnten, da sich die Terminologie vollständig geändert hatte. Die erste Version war zwar gutes Deutsch, entsprach aber in keiner Weise der in ihrem Bereich verwendeten Fachsprache.

Statt eines Sprachexperten wäre ein Fachexperte die bessere Wahl gewesen.

Diskussion in Fachsprache
Die Zeit läuft ab

Beispiel 3: Zeitfaktor

Zeit? Das ist doch ein anderer Eckpunkt!

Zeit kann aber durchaus zu einem Qualitätsaspekt werden. Was nützt mir die schönste und ausgefeilteste Sprache, wenn ich den Text zu spät erhalte?

Für einen anderen Kunden übersetzten wir die Dokumentation für Tintenstrahldrucker in viele Sprachen. Das Problem: nach der Entwicklung verging Zeit für das Schreiben der Dokumentation und dann noch einmal Zeit für die Übersetzung. Und erst danach konnte das Gerät in den Verkauf gehen. Wenn man weiß, dass der Verkaufszeitraum (das »Shelf life«) höchstens 1 Jahr beträgt, bevor das Modell ersetzt oder von der Konkurrenz verdrängt wird, und die Zeit, in der man einen guten Preis erzielen kann, noch deutlich kürzer ist, dann ist jede Woche Verzögerung, die man einsparen kann, bares Geld wert.

Daher war für den Kunden ein wichtiges Qualitätsargument unserer Dienstleistung, dass wir in Zusammenarbeit mit dem Kunden Prozesse entwickeln konnten, die den Verkaufsstart beschleunigten.

Beispiel 4: Vollständigkeit

Alle Studien zeigen, dass es einfach zu viele Materialien gibt, um alles übersetzen zu können. Ein prominentes Beispiel sind Support-Websites. Verkauft ein Konzern seine Produkte weltweit, muss er auch für Support-Seiten in allen Zielsprachen sorgen. Das ist aber häufig unbezahlbar. Daher beschränken sich einige auf »wichtige Sprachen« und »wichtige Texte«. Wichtige Sprachen sind einfach die, in den das meiste Geschäft gemacht wird. Und wichtige Texte werden von den Entwicklern bestimmt oder nach irgendwelchen Schlüsseln im Heimatland des Konzerns ermittelt. Das heißt aber noch lange nicht, dass dies auch die wichtigen Texte in anderen Ländern sind.

Aber das wahre Problem: wenn ich Franzose auf die französische Seite gehe und mit dem ersten weiterführenden Link auf eine englische Seite geleitet werde, dann ist für mich die Qualität unterirdisch.

Natürlich kann man einfach alles durch ein MT-System jagen. Leider reicht dessen Qualität in vielen Fällen nicht aus. Was soll man also tun?

Kombiniert man die beiden Ansätze, erhält man ein sich selbst verbesserndes System. Man legt einen kleinen Teil des Budgets für die maschinelle Massenübersetzung und deren Verbesserung an und nutzt den Großteil für die Übersetzung wichtiger Texte.

So erhält man eine Komplettübersetzung mit unterschiedlicher Qualität und kann auf Grundlagen der Nutzungsstatistiken die Qualität gezielt nachbessern.

Unvollständiges Puzzle

Was ist also die Qualität einer Übersetzung?

Natürlich ist die Sprachqualität wichtig, aber immer angepasst an den Verwendungszweck. Für Hochglanz-Marketingtexte brauche ich eine andere Sprache als für Chatverläufe.

Dann ist da die Fachsprache. Diese besteht nicht nur aus Terminologie, sondern auch aus Ausdrucksweisen, die sich in den verschiedenen Anwendungsfeldern eingebürgert haben. Nutzt man andere Formulierungen, outet man sich schnell als Unwissender.

Wie wir aber gesehen haben, kann die Qualität einer Übersetzung Zeitaspekte (Beispiel 3) und Kostenaspekte (Beispiel 4) enthalten, wodurch das Lokalisierungsdreieck ad absurdum geführt wird.

Keinen der drei Eckpunkte kann ich isoliert betrachten. Sie sind nicht nur voneinander abhängig, sondern „verkleiden“ sich manchmal als einer der anderen.